„Der aktuelle RS 6 ist für mich die Krönung von zwei Jahrzehnten RS-Geschichte“

Stephan Reil, langjähriger Entwicklungsleiter der quattro GmbH (und später dann der Audi Sport GmbH), erinnert sich an 20 Jahre Audi RS 6.

Von der ersten bis zur aktuellen RS 6-Generation: Stephan Reil war von Anfang an dabei und hat die Entwicklung des High Performance Audi maßgeblich mitgeprägt. 1996 kommt der Diplomingenieur als Leiter für Fahrzeugindividualisierung zur quattro GmbH, der heutigen Audi Sport GmbH. Ab 1998 übernimmt er die Leitung der Fahrzeugentwicklung für alle Gesamtfahrzeuge der GmbH und seit 2020 ist er bei der AUDI AG für die technische Entwicklung am Standort Neckarsulm verantwortlich. Zum 20-jährigen Bestehen der ersten RS 6-Generation C5 blickt Reil zurück auf Herausforderungen in der Entwicklung sowie technische Finessen und erinnert sich an prägende Ereignisse.

Herr Reil, wann startete die Entwicklung des RS 6 der ersten Generation C5 (2002–2004)?
Das Audi RS-Programm begann ja ursprünglich in der Mittelklasse. Wir waren 1999 gerade mit dem Audi RS 4 Avant (Baureihe B5) in den Markt gestartet, als die Frage aufkam: Wie kann das weitere Portfolio aussehen? Der RS 6 im C-Segment, also der Oberklasse, war demnach der nächste logische Schritt. Somit haben wir uns nach der Entwicklung des RS 4 voll auf das Projekt RS 6 konzentriert.

Wofür steht die erste Generation für Sie persönlich?
Brachiale Leistung! Sein V8-Biturbo mit 450 PS zeichnet sich durch eine überlegene Performance aus. Wir wollten damit direkt einen deutlichen Leistungsabstand zum S-Modell des A6 und zum Wettbewerb generieren. Und das haben wir geschafft! Als der RS 6 im Frühjahr 2002 auf dem Genfer Autosalon debütiert, stand er mit 450 PS an der Spitze des Segments. Auf der anderen Seite sollte das Auto aber ein „Wolf im Schafspelz“ sein und mit Understatement überzeugen. Ich erinnere mich an ein Zitat der Auto Motor und Sport: „Protzen ist nicht“, der Schaueffekt sei „gleich null“. Unser Plan war also aufgegangen.

Wenn so viel Performance auch im Alltag bestehen soll – wie wird getestet?
In der frühen Phase jedes RS-Modells fahren wir mit einem der ersten Prototypen in einem Zeitraum von rund drei Wochen 8.000 Kilometer am Stück auf der Nordschleife des Nürburgrings. Kurz bevor das jeweilige Modell dann der Weltöffentlichkeit vorgestellt wird, absolvieren wir diese 8.000 Kilometer abermals im Rahmen der Freigabe mit einem Vorserien-Fahrzeug. Das Besondere: Die Nordschleife beansprucht verschiedenste Bauteile in ganz unterschiedlicher Weise. Jeder einzelne Meter zeigt echte Härte: die Kompression in der Fuchsröhre, die Erschütterungen im Caracciola-Karussell oder der Sprung am Pflanzgarten. Ein Kilometer auf dem Ring entspricht deshalb bis zu 15 Kilometern normaler Nutzung im Alltag. Außerdem gibt es noch ausgiebige Wintererprobungen in Schweden und Finnland. Das Gleiche findet auch in heißeren Regionen wie Südafrika oder im Death Valley statt. In unserem Klimawindkanal können wir solche Randbedingungen auch simulieren. Dazu kommen Hochgeschwindigkeitsfahrten, die wir auf dem Testgelände im italienischen Nardò absolvieren, und Bergfahrten, z. B. auch am Großglockner. Die Prototypen sind nahezu überall auf der Welt unterwegs!

Die Markteinführung des ersten RS 6 fand dann auch passend auf dem Nürburgring statt.
Ja, wir wünschten uns für den RS 6 von Anfang an eine Motorsport-Aura. 30 Audi Händler traten deshalb die Jungfernfahrt in ihren Vorführwagen in einem Corso über die Nordschleife im Rahmen des 24-Stunden-Rennens am Nürburgring vor 194.000 Zuschauer_innen an. Ein wirklich beeindruckendes Szenario! Und apropos Motorsport: In Nordamerika, wo es den C5 nur als Limousine gab, wurde er tatsächlich zu Rennzwecken eingesetzt, und zwar in der Klasse Speed GT im Rahmenprogramm der American Le Mans Series (ALMS). Innerhalb von 15 Wochen baute das Team Champion Racing mit Unterstützung von uns die Rennversion RS 6 Competition. Das Wettbewerbsauto wog 1.383 Kilogramm und sein V8-Biturbo leistete 475 PS. Es kam ein manuelles 6-Gang-Getriebe aus dem Audi S4 zum Einsatz. Randy Pobst wurde direkt in der ersten Saison Meister. Sein Teamkollege Michael Galati fuhr auf Rang zwei. Ein riesiger Erfolg, der das Potential des Konzepts V8-Biturbo in Verbindung mit Allradantrieb eindrucksvoll dokumentiert.

Wie muss man sich die Serienfertigung des ersten RS 6 C5 vorstellen?
Der erste RS 6 wurde zu rund 80 Prozent auf der regulären Produktionslinie des A6 gebaut. Die speziell für den RS 6 entwickelten Anbauteile wie Schürzen und Schwellerverkleidungen oder beispielsweise die Ladeluftkühlung des V8 verlangten jedoch einen komplexen Sonderprozess zur Fertigstellung. So wurden die noch unfertigen Autos vom Serienmontageband in die Hallen der quattro GmbH gebracht, wo wir sie dann in präziser Handarbeit auf der Hebebühne in zirka 15 Stunden vollendeten. Die Monteure installierten zunächst die Ladeluftkühler, den finalen Ansaugtrakt und dann die Schürzen und Schweller. Und zum Abschluss dann die Räder, die zu breit für die normale Fertigungsstraße waren. Am Tag konnten wir so etwa 20 Fahrzeuge fertigstellen.

Kommen wir zur zweiten Generation des RS 6 C6 (2008–2010). Zehn Zylinder, zwei Turbolader, 580 PS. Zu dieser Zeit der stärkste Audi überhaupt!
Mit dem C6 haben wir damals die Grenze des technisch Möglichen ausgelotet. Sein Fünfliter-V10 ist der größte jemals gebaute RS-Motor und wir konstruierten das Biturbo-Setup des 10-Zylinders eigens für den RS 6. Insgesamt gab es somit bei Audi drei Varianten des V10. Eine Variante treibt die großen Limousinen S6 und S8 an, eine andere die Supersportler R8 und Lamborghini Gallardo. Wir haben die stärkste Ausbaustufe und die einzige mit Turboladern in den RS 6 gebaut. Zudem haben wir eine Trockensumpfschmierung aus dem Rennsport integriert, die den Motor bei hoher Querbeschleunigung zuverlässig mit Motoröl versorgt. Der V10 mit seinen zwei Turboladern und Krümmern ist schon optisch ein Kunstwerk und er ist mächtig. Ich kenne keinen Motorraum, der besser gefüllt ist als der des RS 6 C6.

Von der wuchtigen V10-Antriebsphilosophie des C6 zum Downsizing des C7 (2013–2018) mit V8: Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Die größte Stärke des C6 war in gewisser Weise auch seine größte Schwäche. Der riesige, schwere Motor liegt zu großen Teilen vor der Vorderachse. Geradeaus ist er fast uneinholbar, doch bei engen Kurven kommt die unvorteilhafte Achslastverteilung zum Tragen. Bei der Entwicklung der dritten Generation des RS 6 stand deshalb eine bessere Querdynamik im Vordergrund. Wir wollten den C7 agiler machen und er sollte dringend Gewicht verlieren, vor allem auf der Vorderachse. Ein Vorteil: schon beim Basis-A6, der auf dem damals neuen modularen Längsbaukasten (MLB) basierte, bestehen alle Anbauteile aus Aluminium. Ebenso sitzt beim MLB der Motor weiter hinten im Fahrzeug. Kombiniert mit dem leichteren V8-Motor im neuen RS 6 der Generation C7 entsteht eine viel günstigere Verteilung der Achslasten. So ist das Auto trotz 20 PS weniger Leistung im Vergleich zum Vorgänger in allen Belangen schneller, sportlicher und, dank Zylinderabschaltung, auch sparsamer als der C6. Besonders in der Fahrdynamik war der C7 ein Riesensprung für uns. Dank besserer Gewichtsverteilung wurde der RS 6 nun zum Kurvenräuber und dank Launch Control und schnell schaltender 8-Gang-Automatik sprintete der C7 in 3,9 Sekunden auf Tempo 100, also gut eine halbe Sekunde schneller als sein Vorgänger.

Beim RS 6 kommen bis heute DRC-Fahrwerke zum Einsatz. Was ist ihr Vorteil?
Das DRC (Dynamic Ride Control)-Fahrwerk gehört zur DNA des RS 6 und wurde damals eigens für den C5 komplett neu entwickelt. Die Konstruktion mit diagonal über Ölleitungen verbundenen Dämpfern reduziert bei dynamischer Fahrt Wank- und Nickbewegungen und ist seit dem C5 zu einer Konstante in der RS 6-Geschichte gereift. Es kombiniert ordentlichen Komfort mit straffer Fahrdynamik. Die DRC-Technologie wurde stetig weiterentwickelt, seit C6 mit verstellbaren Dämpfern kombiniert und ist auch im heutigen C8 auf Wunsch verfügbar. Ab der Generation C7 bieten wir auch serienmäßig Luftfahrwerke, die „adaptive air suspension“ an. Für den RS 6 natürlich in einer sportlichen Applikation mit 20 Millimetern Tieferlegung und verbindlicher, aber alltagstauglicher Abstimmung.

Kommen wir zum RS 6* der aktuellen Generation C8. Mit dem einstigen „Wolf im Schafspelz“ hat der exzentrisch anmutende C8 nur noch wenig gemein, oder?
Das stimmt, mit der Generation C8 setzt sich der RS 6* äußerlich klar vom Basismodell ab. Wir haben zum Beispiel die Radhäuser um je vier Zentimeter verbreitert, die ovalen Endrohrblenden sind 33 Prozent größer als beim Vorgänger und der Felgendurchmesser ist auf bis zu 22 in der Option gewachsen. Seine flachen Matrix-LED-Scheinwerfer stammen übrigens vom RS 7*. Um das möglich zu machen, haben wir erstmals für den RS 6* auch eine eigenständige Motorhaube umgesetzt. In Summe übernimmt der RS 6* der C8-Generation lediglich drei Bauteile der Außenhaut vom Basismodell A6 Avant*. Alle anderen Exterieurbauteile sind RS-spezifisch verändert worden. Durch zahlreiche Exterieur- und Interieurausstattungsvarianten und Optik- wie Designpakete kann der Kunde nach Bedarf entscheiden, ob sein RS 6* eher mehr oder weniger Understatement zeigen soll. Diese Wandelbarkeit gepaart mit einem hohen Maß an Alltagstauglichkeit ist ein weiteres wichtiges Element der RS 6-DNA. Mit dem C8 kommt der
RS 6* auch erstmals als 48 Volt Mildhybrid. Ein Riemen-Startgenerator (RSG) nimmt den Platz der Lichtmaschine ein. Er verfügt über ein zusätzliches Bordnetz mit 48 Volt und einer eigenen Batterie. Im Schubbetrieb und während des Bremsens erzeugt er mehr Energie als ein herkömmlicher Generator. In allen anderen Situationen belastet er den Motor weniger. In seinem Segment war der RS 6* zu seiner Weltpremiere der erste und einzige mit Mildhybrid-Technologie. Der RS 6* wird mit der aktuellen Generation C8 erstmals auch als Avant in Nordamerika angeboten und ist daher auf vielen Ebenen zum weltweiten Erfolgsmodell gereift. Für mich ist er die Krönung von zwei Jahrzehnten RS-Geschichte.

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